Rede von Dr.-Ing. Hans-Jörg Jäkel, „Abgrundtief + bodenlos: S21-Absacker in Obertürkheim“, 616. Montagsdemo am 21.06.2022

„Abgrundtief + bodenlos: S21-Absacker in Obertürkheim“

Rede von Dr.-Ing. Hans-Jörg Jäkel auf der 616. Montagsdemo am 20.06.2022

Redemanuskript

Hans-Jörg JäkelBei „Abgrundtief + bodenlos“ fällt sicher Vielen zuerst das Buch von Winfried Wolf mit der Titelfortsetzung „Stuttgart 21 und sein absehbares Scheitern“ ein. Bei seinem Erscheinen 2017 hatten wir es auf gerade mal 370 Montagsdemos gebracht und die Attribute waren natürlich auf das Gesamtprojekt, seine exorbitanten Kosten und seine schlechte Funktionalität bezogen. Inzwischen ist das Buch beim Verlag ausverkauft und Winfried Wolf überlegt, ob er zum 100-jährigen Jubiläum unseres Hauptbahnhofes im Oktober eine gründlich überarbeitete und ergänzte Neuauflage herausbringt.

Abgrundtief und bodenlos ist das am vergangenen Dienstag unter dem S-Bahngleis in Obertürkheim entstandene Loch ja nicht. Aber ein Trichter mit einem oberen Durchmesser von ca. 3 Metern und einer Tiefe von einem Meter, bei dem der dort normalerweise die Schwellen tragende Schotter nach unten verschwunden ist, das ist ein gravierendes Sicherheitsproblem für den Bahnverkehr und hat dann auch zur sofortigen Sperrung dieses Gleises mit den entsprechenden Auswirkungen auf den Bahnbetrieb geführt.

Das Brisante – eigentlich Unfassbare – ist nun, dass genau unter diesem Trichter ein Tunnel für Stuttgart 21  gebaut wurde – die Zuführung von Esslingen zur Halbtiefschrägstation. Nach einer Grafik von „Bahnprojekt Stuttgart Ulm“ ist er dort auch im Rohbau fertig. Wie kann dann jetzt der Schotter der darüber führenden Bahnlinie in diesem Umfang nachrutschen? Auf Nachfrage der Stuttgarter Zeitungen zur Ursache antwortet ein Bahn-Sprecher, dass dies „noch unklar“ sei. Er bestätigt aber, dass genau dort Tunnel für Stuttgart 21 gebaut werden.

Diese Situation als S21-Absacker zu bezeichnen, das nutzt natürlich die sprachliche Mehrdeutigkeit aus. Es geht aber (noch) nicht darum, sich in Obertürkheim von S21 zu verabschieden, so wie man es bei einem Absacker üblicherweise macht. Es geht auch nicht darum, dass die Schottersteine wie bei Getreide üblich in Säcke gefüllt wurden, sondern darum, dass sich eine vielbefahrene Strecke gefährlich abgesenkt hat. Es muss nachgefragt werden, warum dieses Sicherheitsrisiko nicht schon eher erkannt wurde, denn selbst nach Aussagen von Fahrgästen der S-Bahn war es spürbar. Unsere Mitstreiter im Bezirksbeirat von Obertürkheim und im Gemeinderat werden diese Fragen über die Verwaltung an die DB zur dringenden Klärung weiterleiten lassen. Denn die zwei Obertürkheimer S21-Tunnel unterqueren dort vier Bestandsgleise, also gibt es noch genügend Möglichkeiten für weitere S21-Absacker.

In meiner Freizeit bin ich schon seit vielen Jahren bei der Museumseisenbahn im Großraum Stuttgart engagiert. Auch dort gibt es regelmäßig Unterweisungen zum bahnbetrieblichen Regelwerk. Die Priorität der Kriterien für Entscheidungen ist dabei immer klar: „Sicherheit zuerst, dann Pünktlichkeit und erst danach die Wirtschaftlichkeit“. Das sollte doch auch beim Projekt Stuttgart 21 und beim Bahnverkehr im Knoten Stuttgart gelten.

Die Sicherheit in Obertürkheim wäre höher gewesen, wenn in die Bestandsgleise an den Kreuzungsbereichen mit den S21-Tunneln zeitweilig – also während des Tunnelbaus - sogenannte Hilfsbrücken eingebaut worden wären. So hat man es ja auch bei der Rettungszufahrt an der Benzstraße in Untertürkheim gemacht. Meine entsprechende Nachfrage vor mehreren Jahren an den Bauleiter wurde mit Hinweis auf die Beherrschung des Verfahrens mit einem voreilenden Bohrschirm zurückgewiesen. Aber nun ist es schief gegangen und hätte auch zu einer Katastrophe führen können.

Den S21-Absacker in Obertürkheim möchte ich zum Anlass nehmen, an eine Reihe fataler Fehler des Projekts zu erinnern: Vor fast 10 Jahren entgleisten gleich 3 ICs bei der Ausfahrt aus Gleis 10. Was war die Ursache? Um Platz für die Baugrube der Halbtiefschrägstation zu bekommen, wurden die Prellböcke (Gleisabschlüsse) um gut 100m von der Querhalle des Bonatzbaus weg verlegt. Natürlich mussten die für ICEs nötigen 400m langen Bahnsteige auch verlängert werden. Damit das möglich ist, wurde das Gleisvorfeld umgebaut. Vom Bahnhofsturm und auch heute noch von der ITS-Plattform kann man diese „Leistung bewundern“. Es wurden grenzwertige S-Kurven eingebaut, also Wirtschaftlichkeit vor die Sicherheit gestellt. Solche S-Kurven wurden dann nicht nur der A-Klasse beim Elchtest, sondern auch den geschobenen ICs bei der Ausfahrt aus Gleis 10 zum Verhängnis, da die Puffer sich kaum noch berühren. Bis heute hat das EBA für dieses Gleis geschobene Züge verboten.

Beim Abriss des Südflügels sollte ein Bagger die Wände neben Gleis 16 entfernen. Aber statt die Wände von den dort eingebauten Dachstützen vorher ordentlich zu trennen, hat man darauf vertraut, dass sich die Wände beim Abbruch von den Stützen lösen werden. Erst ging es gut, aber dann fiel mit einem Wandstück auch eine Stütze um und das Dach über den Gleisen 15 und 16 senkte sich auf die dort stehenden Züge. Wieder hatte die Sicherheit nicht die erforderliche Priorität erhalten.

Ich möchte hier nicht die Gesamtgeschichte der Projektfehler darstellen. Es sei nur noch das in der Fassade des Bonatzbaus entstandene Loch erwähnt. Dies entstand ja auch durch den nicht sachgerechten Abriss einer tragenden Wand. Glücklicherweise stürzten die Fassadensteine in der Nacht herunter, so dass keine Personen zu Schaden kamen.
Entgleisungen, Dach- und Fassadeneinstürze und nun auch die Hohlraumentstehung unter der S-Bahnstrecke in Obertürkheim zeigen aus meiner Sicht sehr deutlich, dass im Projekt Stuttgart 21 die Sicherheit immer wieder unzureichend beachtet wird. In einem so komplexen Projekt kann es nicht richtig sein, die technischen Regelwerke und die Gesetze der Naturwissenschaften allesamt grenzwertig auszulegen. Diese kritische Situation habe ich bei einer Presseanfrage deshalb auch als „systemischen Fehler“ bezeichnet. Das gilt übrigens nicht nur für die Baudurchführung, sondern auch für den geplanten Betrieb. Dabei denke ich beispielsweise an den Brandschutz, an die angebliche Leistungsfähigkeit und an die erträumten Segnungen durch den digitalen Knoten Stuttgart. Aber das ist ein anderes Thema.

Der öffentliche Druck über unsere gewählten Vertreter, aber auch über die Medien muss jetzt dazu führen, dass die genauen Ursachen für den S21-Absacker in Obertürkheim von der Bahn ermittelt werden und dass gründlich geprüft wird, ob solche Probleme noch an anderen Stellen auftreten können. Dann wären entsprechende Maßnahmen einzuleiten.

Der S21-Absacker zeigt es deutlich: „Ihr kriegt uns nicht los, wir Euch schon!“ Und unsere Maßnahme ist klar. Wir werden „Oben bleiben!“